J’ai caressé l’éternité, rühmt sich Tzara (i. e. Samuel Rosenstock) in Signe de vie (1946) – die Zeitläufte sind auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen. Mit der Übersiedlung nach Paris 1919 hatte Tzara erst den dortigen Dadaisten, danach den Surrealisten nahegestanden, mit ihnen gebrochen, die Künstlerin Greta Knutson geheiratet und sich von Adolf Loos ein Haus bauen lassen. Sein Gedichtband L’homme approximatif machte ihn 1931 berühmt, 1936 engagierte er sich auf republikanischer Seite im spanischen Bürgerkrieg. Die Jahre der deutschen Okkupation verbrachte er unter wechselnden Namen in Südfrankreich, stets bedroht, an die Gestapo denunziert zu werden. Nach der Befreiung galt Tzara als Poète partisan und ritt publizistische Attacken gegen vermeintliche Kollaborateure wie Jean Giono, aber auch gegen in die USA emigrierte Schriftsteller wie André Breton und Benjamin Péret. Deren Kritik an einer politisch vereinnahmten Literatur, wie sie laut Pérets Streitschrift Le déshonneur des poètes (1945) die Dichter der Résistance hervorgebracht hätten, konterte Tzara mit dem Vorwurf der Realitätsferne und sprach der surrealistischen Bewegung mit Verweis auf die Gräuel des eben überstandenen Krieges jede Daseinsberechtigung ab. Stattdessen propagierte Tzara einen «humanisme poétique», der sich den Herausforderungen der Zeit stellen sollte und dessen Wurzeln er – unter Aufwendung von etwas ideengeschichtlicher Akrobatik – in der anarchistischen Poetik des Zürcher Dadaismus lokalisierte.
Es ist anzunehmen, dass das Zürcher Publikum von all dem nur wenig mitbekommen hatte. Vielmehr versprach man sich vom einstigen Enfant terrible farbenfrohe Anekdoten über die bislang undokumentierten und in den vergangenen dreissig Jahren bereits in mythische Ferne gerückten Dada-Zeiten. Entsprechend konsterniert zeigte sich der Kritiker der Tat: «Wenn wir nach genau 30 Jahren Gelegenheit hatten, Tristan Tzara, den aktivsten Propagandisten und Mitbegründer des Dada, erneut in Zürich sprechen zu hören, so ging man nicht so sehr in der Erwartung, Schlüsselsätze für die Entwicklung der gegenwärtigen Literatur zu vernehmen, als vielmehr um der Stellung willen, die Tzara gegenüber seinen «Jugendsünden» einnimmt. Und sogar hier wurde man enttäuscht [...]». Auffällig unterschiedlich beurteilte das Genfer Publikum Tzaras Auftritt vom 21. Februar im Palais de l’Athénée, der gemäss dem enthusiastischen Bericht des Journal de Genève von «vifs applaudissements» begleitet wurde. Man schien in Genf, das während des Krieges als zentraler Umschlagplatz für die literarische Produktion der Résistance fungiert hatte, etwas mehr Gespür für die Aktualität von Tzaras Ausführungen besessen zu haben.
Dass es überhaupt zu einem Auftritt Tzaras in Zürich kam, ist Carola Giedion-Welcker (1893–1979) zu verdanken. Die Kunstkritikerin hatte den Dichter in den 1930er Jahren in Paris kennengelernt und nahm Tzaras Gedichte in ihre Sammlung Poètes à l’écart / Anthologie der Abseitigen auf, an der sie während des Krieges arbeitete (1946 veröffentlicht bei Benteli). Eine erste Kontaktnahme noch vor Kriegsende geschah über den Architekten Aldo van Eyck, den Carola Giedion-Welcker im Herbst 1944 nach Paris schickte, damit er als «Delegierter der Zürcher Kreise» alte Freunde besuche und mit dem Nötigsten versorge – neben Alberto Giacometti, Hans Arp und Constantin Brancusi auch Tristan Tzara. Im Wissen um Tzaras Einladung für seinen Genfer Vortrag durch die Zeitschrift Labyrinthe, vermutlich im Sommer 1945, ermunterte ihn Carola Giedion-Welcker zu einem Abstecher nach Zürich. In ihrem schriftlichen Nachlass (gta Archiv / ETH Zürich, Siegfried Giedion) findet sich ein Brief vom Dezember 1945, in dem sich Tzara für die Einladung nach Zürich bedankt und einen Vortrag mit dem Titel La poésie latente et la poésie manifeste ankündigt. Die Organisation des Zürcher Vortrags scheint Carola Giedion-Welcker an die Société des belles lettres der ETH Zürich sowie Henri Wengérs Librairie française an der Rämistrasse 5 delegiert zu haben. Erhalten hat sich in ihrem Nachlass das typografisch reizvolle Werbeplakat für Tzaras Auftritt, und es ist davon auszugehen, dass sie den Vortrag gehört hat.
Der so endgültige wie weitsichtige Kommentar zu Tzaras Zürcher Intermezzo findet sich von ihm selbst formuliert in einer Widmung für Aldo van Eyck im Gedichtband La main passe. Datiert mit «Zurich le 24.II.1946» lautet die trotzig kurze Zeile: «Dada reste».
Mario Lüscher, 2016