RB: Giacomo, Du hast ursprünglich eine Ausbildung an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Luzern gemacht. Wieso hast Du Dich dafür entschieden? Gab es einen bestimmten Anstoss dazu?
GSR: Meinst Du für die Schule in Luzern oder für die Ausbildung an sich?
RB: Für die Ausbildung an sich.
GSR: Ich habe zwar zuerst eine Schreinerlehre gemacht, bevor ich Kunst studierte. Aber ich wusste, seit ich ein Kind war, dass ich malen will. Das war für mich immer…
RB: …schon immer ganz klar?
GSR: Ja, darüber habe ich nie einen bestimmten Entscheid gefällt, es war für mich einfach schon immer sehr natürlich zu zeichnen und zu malen. Diesbezüglich machte ich mir nie so klar Gedanken, ich habe einfach gemacht.
RB: Und Du hast auch nicht irgendetwas Bestimmtes gesehen, im Bereich der Malerei und Kunst, weshalb Du dachtest, das gefällt mir so sehr, sowas möchte ich auch machen?
GSR: Doch, natürlich. Es gab ganz viele solche Momente. Dadurch, dass ich mit der spanischen und der italienischen Kultur sowie der schweizerischen Kultur als Brücke dazwischen aufgewachsen bin, habe ich eine Menge kulturellen Hintergrund mitgekriegt. Zum Glück waren unsere Eltern sehr offen und interessiert in dieser Hinsicht. Wir haben oft Museen besucht oder sind gereist. Dadurch habe ich sehr viel gesehen und mitbekommen, was mich natürlich auch stark beeinflusste. Zudem zeichnete und malte ich schon immer sehr gerne. Vermutlich ist das für mich seit Kind eine Form zu denken und mich auszudrücken. (Pause) Es gab schon ganz einschlagende Momente, zum Beispiel als ich zum ersten Mal eine Arbeit von Mark Rothko sah: Das war ein dermassen emotionaler Moment, dass er mich zu Tränen rührte. Damals wusste ich nicht, wieso das geschah. Aber solche Geschehnisse haben mich extrem beeindruckt, auch weil ich die Kraft spürte, die ein Bild bergen kann. Was ich aber nicht richtig verstand, war, was das genau ist – das verstehe ich vielleicht auch jetzt noch nicht (lacht). Ich vermute, deshalb mache ich Kunst. Dem gehe ich nach.
RB: Wenn Du solche Erlebnisse hattest, wie hast Du demnach versucht, das selbst aufzugreifen, auszudrücken? Auch so, dass eine visuelle und emotionale Begegnung mit anderer Kunst in Deine eigene Kunst einfloss?
GSR: Ich war primär beeindruckt von dieser Kraft, die von einem Gemälde oder einem Bild auf einen Menschen ausgehen kann. Daraufhin habe ich nicht versucht zu kopieren, aber ich wusste, dass es auch mein natürlicher Impuls ist, Bilder zu kreieren. Durch solche Erfahrungen gewann meine Arbeit auch an Bedeutung. Ich erkannte, dass sie Bedeutung haben kann – nicht nur für mich selbst, sondern auch für andere, die beim Betrachten gleiches erleben können, wie ich es tat angesichts fremder Arbeiten. (Pause) Solche Momente gab es zahlreiche, beispielsweise auch als ich zum ersten Mal Pablo Picassos Guernica sah. Das war genauso beeindruckend. Und nach der Schule, im Alter von 15 oder 16 Jahren, kommt ja immer der Moment, wo man sich fragt: Was mache ich nun? Will ich studieren oder eine Berufslehre machen? Zwar war es für mich schon klar, dass ich malen und Kunst studieren will, aber ich denke, dass ich seinerzeit eine sehr gute Entscheidung traf und nicht den direkten Weg an eine Kunsthochschule einschlug. Ich hatte das Gefühl, ich sei noch zu jung und gar noch nicht so weit, Kunst zu studieren. Wenn ich selbst noch nicht genau weiss, was ich machen will, wie sollte ich mir dann von jemandem beibringen lassen, was ich machen soll?
RB: Du wolltest es eigenständig herausfinden.
GSR: Ja, weil ich nicht auf eine Kunsthochschule wollte, um dort irgendwelche Techniken zu lernen – denn das, was ich gerne mache, kann ich für mich selbst tun und erforschen, sondern um dort einen intellektuellen Austausch zu erfahren. Eigentlich weiss ich nicht ganz genau, was mich letztlich zu einer Lehre bewog. Es war auch nicht so, (lacht) dass meine Eltern gesagt hätten, die Kunst sei brotlos, geh besser in eine andere Richtung – überhaupt nicht! Meine Eltern haben immer ausserordentlich unterstützt, was ich gerne tat, so auch meine künstlerische Seite. Aber ich interessierte mich auch seit jeher stark für das Handwerkliche. So entschied ich mich für eine handwerkliche Berufsausbildung. Die Schreinerlehre dauerte vier Jahre, und ich lernte enorm viel, was das Handwerkliche anbelangt. Ich erinnere mich noch genau, mein Monatslohn als Lehrling belief sich auf 440.- Fr., und ich habe ab dem ersten Monat ein Atelier gemietet für 330.- Fr. (lacht).
RB: (lacht beeindruckt)
GSR: Meine künstlerische Arbeit verfolgte ich also stets weiter. Und nach der Lehre fing ich an zu studieren. Das war ein fliessender Übergang.
RB: Und hast Du Deine eigenständige Arbeit auch dann noch weitergemacht?
GSR: Ja, natürlich, die habe ich immer weitergemacht. Ich denke jedoch, weil ich ein paar Jahre älter war, war ich eher bereit für diese Konfrontation. Aber es war für mich nie ein konkreter Entscheid gewesen: Ich gehe jetzt Kunst studieren und erlernen. Stattdessen war es ein natürlicher Impuls.
RB: Dann hat sich Deine künstlerische Praxis ja stetig entwickelt. Gleichzeitig bist Du auch in den theoretischen Bereich der Kunstgeschichte immer tiefer eingetaucht. Haben sich diese beiden Interessen gegenseitig verstärkt?
GSR: Ja, verstärkt und miteinander verbunden. Die Beschäftigung mit der Kunstgeschichte heisst für mich auch, sich praktisch und theoretisch auseinanderzusetzen mit Jahrhunderte alten Techniken, Kompositionen, Farben, Gedanken und Gründen, wieso ein Bild in welcher Form entstanden ist und vielleicht immer noch entsteht. Ich bin überzeugt, dass Malerei auch ein Denkprozess ist, der an der Oberfläche der Leinwand materialisiert wird. Die Geschichte der Malerei ist für mich nicht nur ein Fundus an Bildern und Techniken, auf den ich als Maler jederzeit zurückgreifen kann, sondern auch ein weiterlebendes grosses Stück Geschichte. Der Gedanke, mit Malerei Emotionen möglicherweise über Jahrtausende fortzubringen, hat mich schon immer fasziniert.
RB: Als Schreiner hattest Du viel mit Holz zu tun. In Deinem früheren Werk scheint das Zeichnerische sehr wichtig, dann hast Du auch gemalt mit Acryl- und Ölfarben, im Prinzip mit sehr klassischen Medien angefangen, auf Papier oder Leinwand. Technisch sind das ja wahrlich alles ziemlich unterschiedliche Dinge…
GSR: …ich glaube, ich komme stark von der Seite der Zeichnung her. Ich dachte immer viel eher als Zeichner denn als Maler. Das sieht man deutlich auch bei meinen älteren Arbeiten. Sie sind weitaus zeichnerischer und der Übergang ins Malerische erfolgte fliessend.
RB: Schliesslich hast Du die Schule in Luzern sehr erfolgreich abgeschlossen. Deine Diplomarbeit wurde sogar ausgezeichnet. Wie war es denn, als Du Dich danach beruflich und wirtschaftlich gesehen als Künstler etablieren musstest? Du hattest beispielsweise schon sehr schnell nach Deinem Hochschulabschluss eine Einzelausstellung – ein Jahr später. Wie ist es dazu gekommen?
GSR: Was das anbelangt, zahlte sich wiederum der Entscheid für die Schreinerlehre aus. So hatte ich immer etwas Geld, um zu machen und zu leben (lacht). Ich konnte sofort ein Atelier mieten, was andere nicht konnten. Auch nach der Lehre arbeitete ich parallel zur Ausbildung Teilzeit. Damit konnte ich einerseits mein Studium finanzieren, gleichzeitig ein Atelier haben und fortfahren künstlerisch zu arbeiten. Während dem letzten Jahr des Studiums erhielt ich Anfragen zu unterrichten und fing noch im Diplomjahr mit der Lehrtätigkeit für den Vorkurs an. Das führte zu einem fliessenden Übergang nach Ende des Studiums, insofern ich weiterhin zwei bis drei Tage in der Woche unterrichtete und ansonsten meine eigene Arbeit verfolgte. Ich habe immer versucht, genügend Geld zu verdienen, damit ich leben und machen kann, wozu ich Lust habe. Die Vorstellung, dass ich einmal von meiner künstlerischen Arbeit leben könnte, war damals noch weit weg. Das habe ich gar nie so bewusst angestrebt. Das kam…
RB: …einfach so?
GSR: Vom einen ins andere, ja. Nach dem Studium erhielt ich ziemlich bald Anfragen für Ausstellungen. Und dann konnte ich bereits im Verlauf eines Jahres von meiner eigenen Arbeit leben und unterrichtete auch nicht mehr länger.
RB: Gab es denn bestimmte Institutionen, Galeristen oder andere Personen, zu welchen der Kontakt sehr wichtig für Dich wurde?
GSR: Ich hatte wirklich das Glück, dass ich nach dem Studium Anfragen erhielt von mehreren sehr guten Galerien, die Interessen zeigten, mit mir zu arbeiten. So hatte ich geradezu den Luxus auszuwählen. Ich entschied mich für Mark Müller, der heute immer noch mein Galerist ist.
RB: Wenn wir auf Dein Werk blicken, lässt sich feststellen, dass zu Beginn das Figurative noch viel präsenter ist. Und dann gibt es ein Bild – ich glaube, es heisst Malereitugend, worin Du geometrische, abstrakte Muster betont ins Figurative hineinbringst. Du machst das dabei in der Gestalt einer Weste eines porträtierten Mannes. Wieso? Was machte für Dich den Reiz aus, diese Elemente zu verbinden?
GSR: Es ist schön, dass Du diese Arbeit erwähnst – Malertugend heisst sie. Wie gesagt, komme ich ja vom Zeichnerischen her. Ich habe oft versucht, die Sachen so zu zeichnen bzw. wiederzugeben, wie ich sie sehe. Dafür brauchte ich die Zeichnung. Aber ich bin von diesem Zeichnen, Aufnehmen, Wiedergeben des Gesehenen in die Malerei übergegangen, die für mich viel eher intuitive, innerliche Bezüge darstellte. Und in den Jahren dieses Übergangs – wenn man so will – ist Malertugend eine ganz wichtige Schlüsselarbeit. Sie ist die bildliche Darstellung dieser Figur mit jener Weste, welche aber die Innerlichkeit darstellt – also das, was man mit sich trägt. Ich glaube, das waren Momente der Kehrtwende, die zu einer Introspektion führten. Das heisst, dass ich nicht mehr versuchte wiederzugeben, was ich sehe, sondern was von innen kommt.
RB: Dann ist es inhaltlich wichtig, dass es genau das Porträt und genau die Weste sind, welche diesen Prozess andeuten?
GSR: Genau, richtig. Für mich war der Bezug von der Person zum Bild fundamental in dieser Zeit; wie diese miteinander zusammenhängen, spezifisch wie man das, was das Bild sein kann, mit sich tragen kann. Ich versuchte das dann ganz banal auszuprobieren. Ich nähte mir selbst eine Weste aus einem Bild und zog sie an. Ich habe versucht, selbst ins Bild hineinzutauchen.
RB: Das scheint auch den nächsten Schritt einzuleiten. Nämlich, dass Du, wenn Du so ins Bild hineintauchst, das Figürliche wegfallen lässt. Du tauchst im Malerischen, nimmst anders wahr und drückst es mit einer anderen Formensprache aus.
Später wechselst Du wiederum die Technik. Zwar arbeitest Du immer noch mit dem Pinsel, aber auch – und das ist vielleicht viel später – mit Farbpigmenten, die Du streust. Dabei gibst Du für die entstehende Darstellung nur noch einen Startschuss durch die Geste des Streuens. Du arbeitest einerseits mit nassen Leinwänden und andererseits mit trockenen. Kannst Du genauer erklären, wie das funktioniert?
GSR: (Lacht) Also von dem, worüber wir vorher gesprochen haben, zu dem, worauf sich Deine jetzige Frage bezieht…
RB: …ist es ein weiter Schritt.
GSR: Ja, es sind fast zehn Jahre!
(Beide lachen)
GSR: Vielleicht muss ich noch ein bisschen mehr zurückgehen.
RB: Ja, gerne.
GSR: …dorthin, wo mehrere Arbeiten entstanden, die das Figurative und das Malerische zunächst verbinden, wo sich die Figur wortwörtlich im Bildinnern befindet. Es gibt sogar eine Arbeit, da badet eine Figur im Bild drin (schmunzelt). Es war, als ob ich die Sachen noch sehen musste, um sie zu empfinden. Der kreative Vorgang wurde visuell ausgelöst, weil ich von der Zeichnung ausging und damit vom Abbilden oder Wiedergeben des Gesehenen. Ich glaube, als ich mich vom zeichnerischen Schaffen – oder Denken – ablösen konnte, öffnete sich mir eine völlig andere Welt. Plötzlich konnte ich von der anderen Seite des Bildes oder vom Spiegel aus denken und arbeiten. Dort fing der Gedankenfluss an, das Bild als Raum einzuschätzen. Das Bild war für mich nie bloss eine Oberfläche, sondern etwas, in das ich mich hineinbegeben kann. Dort fing ein neues Schaffen an und die Figuration begann, sich schrittweise zu entfernen, ist aber immer wieder vorgekommen…
RB: …und kommt immer noch vor.
GSR: Ja, auch jetzt noch. Im Fall meines Werks ist es sehr wichtig, dass man eine Entwicklung erkennen kann, wenn man zurückschaut, wie wir es jetzt tun; dass jede Arbeit zur nächsten führt und dass ich nicht Konzepte ausdenke, die ich dann seriell ausführe, wobei abgeschlossene Gruppen entstünden.
RB: Es zeichnet sich kein Bruch in Deinem Werk ab, sondern ein Weiterfliessen.
GSR: Genau.
RB: So gesehen, verschränkt sich Dein Werk auch in sich selbst.
GSR: Richtig.
RB: Gibt es bei Dir also schon ein serielles Schaffen, aber in fortlaufender, ständig mutierender, sich entwickelnder Weise?
GSR: Ja. Das ist ganz wichtig. Das ist auch einer der Punkte, bei dem viele Leute, die meine Arbeit sehen, am Anfang auf Widerstand stossen. Sie ist vielfältig und besteht aus vielen unterschiedlichen Arbeiten. Je mehr man aber davon sieht oder wenn man einmal eine Ausstellung besucht, desto besser kann man merken, wie sehr sie miteinander verschränkt sind.
RB: So geschieht es auch, dass Du ein eigenes bestehendes Bild per se in ein weiteres Bild integrierst, respektive verschiedene Bilder zusammenführst, dabei aber etwas Neues entwickelst?
GSR: Ja. Die Eigenschaften der Zusammenführung oder des Ineinanderfliessen waren für mich von Anfang an von hoher Bedeutung. Ich glaube, das sind Begriffe, die sich bereits in den einzelnen Arbeiten widerspiegeln, zum Beispiel in der Farbigkeit. Mit dem Verbinden verschiedener Materialien, Formen oder Farben beschäftigte ich mich kontinuierlich. Farbigkeit, Materialität, Oberflächen: Das waren immer Widersprüche, die versucht haben, sich gegenseitig die Waage zu halten. Es gibt beispielsweise das Element der Verläufe. Alles versucht ineinander zu laufen, selbst wenn Schwarz auf Weiss prallt. In meinen Gemälden zeigt sich vermehrt der Verlauf der Farben. Die Farbigkeit stellt verschiedene Ebenen dar. Und dadurch, dass die Farben zusammentreffen oder ineinanderfliessen, verbinden sich diese Ebenen. Um diese Vorgänge zu widerspiegeln, habe ich stets unterschiedliche Techniken gesucht. Das gab es früher, und das gibt auch bei den Techniken, die ich aktuell seit ein paar Jahren verwende. Dabei fliessen flüssige Pigmente ineinander.
RB: Teilweise sind die Bilder von einer starken Farbigkeit geprägt, stellenweise lässt Du die Leinwände auch frei. Die Auswahl der Farben legst Du fest, aber gerade bei der Technik mit den flüssigen Pigmenten überlässt Du deren Verläufe im Prinzip ihrer selbst. Steuerst Du den Prozess oder schaust Du, was passiert? Die Zeit wird ebenfalls sehr wichtig – bestimmst Du selbst noch, wann ein Werk fertig ist oder beobachtest Du einfach?
GSR: Also das sind sehr viele Sachen (lacht). Das Zeichnerische zu Beginn, war auch ein Versuch zu kontrollieren. Hinter meinen anfänglichen Arbeiten lag konstant ein bestimmtes Konstrukt. Sie waren konstruktiv, hatten einen geometrischen Aufbau. Dies habe ich versucht schrittweise zu lockern oder aufzulösen. Auch in der Topografie des Bildes, seiner Räumlichkeit, bewegte ich mich zunehmend freier. Jetzt bin ich natürlich wieder an einem Extremum angelangt, indem ich den Bildraum einfärbe, dann aber selbst dem weiteren Geschehen beistehen oder zuschauen kann. In gewissen Massen bin ich selbst plötzlich auch bloss Beobachter. Das Arbeiten ist ein Dialog zwischen Impulsgeben, Beobachten, Entstehen und Reagieren. Es ist, als ob man sich ein Problem stellen würde, das man dann selbst wieder versucht zu lösen.
RB: Es ist ein Hin und Her zwischen Beobachten, Eintauchen und Eingreifen.
GSR: Ja.
RB: Bei Bildern wie Magnetar 2 oder Focal 1 konfrontierst Du solche mit flüssigen Pigmenten bearbeitete Bilder mit kleineren, in der Mitte eingesetzten Bildern, die geprägt sind von einer extrem präzisen Pinselführung. Es handelt sich technisch gesehen um Kontraste. Trotzdem findet eine Vereinigung statt. Ist das ein Experimentieren mit Gegensätzen und deren Verbinden? Oder geht es Dir eher darum, bestehende Verbindungen aufzuzeigen, die man nicht erwartet?
GSR: Es ist sicherlich beides. Einerseits hege ich eine nie aufhörende Neugierde für das Material und das Erforschen der Möglichkeiten, die es hergibt. Gleichzeitig suche ich nach dem Moment, zu welchem man keine Kontrolle mehr darüber hat, weil es ein Eigenleben annimmt. Und dann steckt dahinter auch der Wunsch, dass alles auf eine Metaebene gelangt und einen alles plötzlich gleichermassen berühren kann; dass uns eine figurative Arbeit gleich berühren kann wie eine abstrakte. Es geht mir nicht darum, etwas zu beweisen. Es geht mir darum, etwas auszulösen – in erster Linie bei mir selber. Dafür brauche ich schlicht viele verschiedene Techniken und Formen. Meine Arbeit durchläuft stets verschiedene Stadien, wobei ich mir verschiedene Fertigkeiten aneignen muss. Es gibt Momente, da muss ich wie ein Schreiner denken, in anderen wie ein Mathematiker, wie ein Wissenschaftler oder ein Alchemist. Es sind also immer verschiedene Prozesse, die man durchmacht, und am Schluss geht es um eine Bildfindung: wenn all das, was man zu machen versucht, ein Eigenleben annimmt. Auf einmal macht die andere Seite etwas mit einem selbst und nicht mehr umgekehrt.
RB: Ein Geben und Nehmen?
GSR: Ja, richtig.
RB: Dass Du bewusst diese oder jene Perspektive einnimmst, hat ja an sich etwas sehr Kontrolliertes und gleichzeitig Experimentelles.
GSR: Und gleichermassen eigne ich mir gewisse Sachen auch einfach an. Ich versuche, neue Dinge zu erfinden und ebenfalls mit der Kunstgeschichte oder der Malereigeschichte, die schon vorhanden ist, zu arbeiten. Dabei schaue ich mich nach Sachen um, die ich in meine Arbeit einfliessen lassen kann. Das ist der Grund, weshalb man beim Versuch, meine Arbeit mit der Kunstgeschichte zu kontextualisieren, mit historischen Bezügen arbeiten kann, die ich wichtig finde und mir im Vorhinein auch bewusst sind.
RB: Das war kürzlich exemplarisch zu sehen in der Ausstellung Docking Station, wobei Du auf die beiden Werke Muse des Anakreons und Ruine am Meer von Arnold Böcklin reagiert hast. Gerade in dieser Ausstellung hattest Du ebenfalls Positionen anderer zeitgenössischer Künstler um Dich herum, die ebenfalls auf ausgewählte historische Werke aus den Sammlungen des Aargauer Kunsthauses und der Nationale Suisse Bezug nahmen. Wie wichtig ist es für Dich zu beobachten, was andere Künstler machen, in Bezug auf Dein Werk? Ist es für Dich relevant zu beobachten, was andere Künstler aktuell für Lösungen finden und was innerhalb der zeitgenössischen Kunst passiert?
GSR: Ich bin sicher interessiert daran. Wie stark das aber Einfluss nimmt auf meine Arbeit, kann ich kaum abschätzen. Es ist für mich nicht so wichtig, dass ich ständig vergleichen würde. Ich interessiere mich für zeitgenössische bildende Kunst genauso sehr wie für Literatur oder Musik, und mein Freundeskreis besteht keineswegs nur aus Künstlern. Ich lebe also nicht ausschliesslich in dieser Kunstwelt drin. Weil ich finde, dass es ohnehin individuell ist, was man macht, habe ich auch nicht den Drang, mich zu messen oder zu vergleichen. Sobald man vergleicht, scheitert man daran, und es gibt immer jemanden, von dem man denkt, der mache dieses oder jenes besser als man selbst.
RB: Das macht ja gerade die Kontinuität aus in der Entwicklung Deines Werks. Du sagst, Du willst neue Lösungen finden, technisch Neues ausprobieren. Ist das auch ein Grund, weshalb Du mit Farbpigmenten zu arbeiten angefangen hast? Oder wie bist Du genau auf dieses Medium gekommen?
GSR: Das ist natürlich ein starker Widerspruch, wenn man das so sagt. Denn mit Farbpigmenten hat man ja schon vor zweitausend Jahren gearbeitet!
RB: Ei, ja, stimmt. Aber wie Du damit umgehst, ist ja schon neu. Das ist im Grunde etwas sehr Interessantes daran, dass Du ein ausserordentlich traditionelles Material verwendest, aber doch etwas damit machst, das sehr (Pause)… eigen… ist.
GSR: …anders, ja. (Pause) Ich weiss auch nicht – der Reiz daran ist, die Sachen neu zu interpretieren und selbst neu zu entdecken. Manchmal muss man einfach etwas machen, das vielleicht schon tausend Mal zuvor von anderen gemacht und wiederholt worden ist, um es selbst zu erfahren oder zu verstehen. Auch dies ist eine Form, die Kunstgeschichte zu studieren. Es geht mir nicht darum, eine neue Technik zu erfinden, diese für mich zu beanspruchen und dann nur noch damit zu arbeiten; das eine führt zum anderen. Insofern bin ich auf meinem eigenen, versöhnlichen malerischen Weg unterwegs (schmunzelt). Und wohin er führen wird, weiss ich nicht. (Beide lachen). Aber die Ausstellungen sind besonders relevant für mich. Ich arbeite immer sehr stark auf Ausstellungen hin. Mir ist wichtig, dass die Ausstellungen keine Aneinanderreihungen von Werken sind, sondern dass eine Ausstellung als…
RB: …Gesamtwerk?
GSR: …und Gesamterfahrung funktioniert.
RB: Das bedeutet, dass die Werkkombination wichtig ist, aber auch die Anordnung im Verhältnis zum ganzen Raum?
GSR: Ja. Ich arbeite intensiv auf die Räume hin, worin ich ausstelle, und es ist ausschlaggebend, wie die ganze Installation wirkt oder wie man sich im Raum bewegt: Wo kommt man in den Raum, was sieht man als erstes, wo geht man hin? Wie wird man durch diesen Raum von Räumen geschleust?
RB: Dann schaust Du Dir immer zuerst den Raum genau an? Ist das auch ein Punkt für Dich, weshalb Du sagst, da will ich eine Ausstellung machen oder eben lieber nicht? Gibt es Räume, die Du bevorzugst? Oder gehst Du auf einen Raum zu, stellst Dich darauf ein und findest eine Lösung?
GSR: Es gibt sicher Räume, die mich sofort ansprechen und andere, die eher abschreckend wirken. Betreffend Zusagen zu Ausstellungsteilnahmen kommt es natürlich auf den gesamten Kontext an: wo, was, mit wem? Ich glaube, ich kann überall eine gute Ausstellung machen – es gibt keinen schlechten Raum. Entscheidend ist, was man daraus macht.
RB: Wie steht es denn um die Betitelung Deiner Werke? Wie wichtig ist auch dieser Teil im Zusammenhang mit dem einzelnen Werk und der Gesamterscheinung?
GSR: Hmm… die Betitelung – das ist immer so eine Sache, weil man dort ja plötzlich ein Wort, einen Begriff dazu nimmt. Dadurch kann man natürlich sehr viel verursachen. Mich begleiten jeweils gewisse Begriffe während der Arbeit, was ich im Folgenden beieinander zu behalten versuche. Ich will mit den Titeln nicht etwas beschreiben (Pause); und auch nichts vorwegnehmen. Wenn schon, dann versuche ich das Gegenteil, sodass der Titel eine Hinzufügung, nochmals ein Strich sein kann – oder eine Form oder Farbe.
RB: Es gibt teilweise ähnliche Werke, die sich aber möglicherweise in der Farbwahl unterscheiden oder einen verschiedenartigen Untergrund aufweisen. Nehmen wir die Beispiele Fragments und Thinker. Diese Werke haben zwei sehr unterschiedliche Titel, obwohl sie sich formal sehr ähnlich sind.
GSR: Das mag auf den ersten Blick stimmen, jedoch sind die beiden Arbeiten sehr unterschiedlich. Die Arbeiten Fragments konstituieren eine Reihe, wovon sich die Arbeit Thinker durch die geometrische Anordnung der Fragmente unterscheidet. Wenn die Arbeiten in die gleiche Richtung gehen, dann haben sie meistens auch die gleichen Titel: einen Begriff, den ich für eine Bildform gefunden habe und den ich auch gerne dazugehörig behalte.
RB: Ich denke gerade an das Bild Reflection. Da taucht die Figuration in Form eines Porträts in einem noch jüngeren Bild wieder auf. Deutest Du mit dem Titel an, dass Du an einem neuen Reflexionspunkt stehst?
GSR: Ja, gewiss – aber nicht nur; bei diesem Porträt handelt es sich um eine Büste aus der römischen Mythologie. Reflection steht hier auch für Besinnung, Einkehr oder Spiegelung im kulturgeschichtlichen Sinne. Ich versuche stets, die Begriffe möglichst offen zu halten. So betitle ich ein Bild niemals mit „Katze“, weil man darauf eine Katze sieht. Häufig setzte ich mehrdeutige Begriffe ein. Ich gebrauche auch Titel, die sehr abstrakt sind; Worte, die vielleicht gar keine Worte sind, aber an ein Wort erinnern. Ich glaube, die Titel sind wichtig – wichtig in dem Sinne, dass jede meiner Arbeiten einen Titel hat.
RB: Kann man sagen, dass Du mit den Titeln eine weitere Dimension hinzufügst?
GSR: Ja, und manchmal sind die Titel auch so gesetzt, dass sie innerhalb einer Ausstellung helfen, das Ganze zu verbinden oder im Hintergrund eine Geschichte zu erzählen.
(Pause)
RB: Bringst Du auch Gemütszustände in Deine Werke hinein?
GSR: Gemütszustände. (Pause) Das ist sehr schwierig. Es ist weder so, dass es farbig wird, wenn ich glücklich bin, noch umgekehrt.
RB: Es gibt aber durchaus Werkgruppen, die von einer hohen, leuchtenden Farbigkeit leben, während Du für andere nur zwei bis drei Farben verwendest. Liegt dem also ein rein konzeptioneller oder experimenteller Gedanke zugrunde?
GSR: Ich glaube die Farbigkeit ist sehr schwierig zu kontrollieren. Auch bei den älteren Arbeiten, die sehr stark konstruktiv, geometrisch aufgebaut sind, entstand die Farbigkeit sehr intuitiv. Nicht jede Farbe hat das gleiche Gewicht oder dieselbe Tiefe. Wie bei der Form geht es mir auch hier darum, ein Gleichgewicht zu finden.
RB: Wählst Du eine Farbpalette aufgrund von Farbkombinationen aus Vorkommnissen in der Kunstgeschichte oder Phänomenen in der Natur, die Dich ansprechen oder wählst Du die Farben fortlaufend während des Arbeitsprozesses?
GSR: Das kommt stark auf das Werk an und welchen Bezug es aufbauen soll. Die Farbe kommt immer irgendwo her (lacht), auch wenn es intuitiv abläuft. Gerade bei einer Ausstellung wie Docking Station versuchte man an und für sich offenzulegen, worauf oder wie Künstler Bezüge nehmen können, im konkreten Fall beispielsweise auf andere Werke. Dort legte ich einen direkten Bezug ja deutlich offen. Desgleichen entstand ein direkter Dialog mit den anderen Arbeiten. So gibt es wirklich Werke, deren Farbigkeit klar auf etwas referiert und Werke, wo die Farbigkeit Bezug nimmt auf sonstige Phänomene oder emotionale Zustände. Es ist aber sehr schwierig zu definieren. Dafür gibt es keine feste Regel.
RB: Du arbeitest teilweise in sehr grossen Formaten, hast aber auch kleinformatige Arbeiten geschaffen. In der Ausstellung im Helmhaus Zürich hast Du mit einem Werk einen ganzen Raum eingenommen. Inwiefern ist das grosse Format für Dich wichtig?
GSR: Es war nie so, dass ich mich für ein einziges Format entschieden habe. Ich habe mich immer für das Bild und den Bildraum interessiert. Jedes Werk braucht sein Format. Gewisse Arbeiten funktionieren nur, wenn sie kleinformatig sind und andere müssen aus demselben Grund sehr gross sein. Den Unterschieden liegt aber überhaupt keine Wertung zugrunde. Es ist nicht so, dass etwas Grösseres wichtiger ist oder mehr bewirkt als etwas Kleines. Alles hat den gleichen Nenner. Jede Arbeit ist eine Suche, ein Dialog, bis dieser gewisse Moment oder Zustand, dem ich nachgehe, erscheint. Es gibt auch sehr viele Arbeiten, die ich verwerfe. Es ist nicht so, dass alles, was ich in die Hände nehme, irgendwann einmal zu mir spricht (schmunzelt).
RB: Du probierst aus und bewertest dann für Dich, ob ein Werk genügend ist oder nicht.
GSR: Genau. Die Arbeit durchläuft einen langen Prozess. Es ist ein sehr schwieriger Moment, aber plötzlich weiss man es.
RB: Ist es ein Gefühl?
GSR: Ja, es ist ein Gefühl. Darüber wurde ja auch sehr viel geschrieben – deshalb, weil dieser Moment so schwierig zu definieren ist. Das Werk ist im Prinzip nie fertig. Und das ist gerade der springende Punkt, dass es nie fertig ist. Es kann sich in einem vorherigen Zustand bewegen und in einem nächsten Zustand einfach still stehen. Für mich ist das wichtig – dadurch, dass so eine Kontinuität herrscht, alles vor- und rückwärts ineinander weiter verläuft, befindet sich nichts in einem abgeschlossenen Zustand. Das mag ich sehr gerne und versuche es auch immer wieder zu erreichen. Zu diesem Zweck mache ich mir gewisse Techniken und Effekte zu Nutze. Ich versuche herauszufinden, wie ich die Arbeiten stets unterschiedlich wahrnehmen kann. Die Bedeutung des Lichts ist für mich extrem wichtig. Eine Arbeit von mir sieht am Morgen um 8 Uhr nicht gleich aus wie am Nachmittag um 16 Uhr. Sie verändert sich, wie auch wir uns verändern und wie sich das Tageslicht verändert.
RB: Kommt es denn auch vor, dass Du ein Bild, das Du möglicherweise als abgeschlossen betrachtest – oder besser gesagt ruhen lässt, später doch noch weiter bearbeitest? Auch nachdem Du siehst, wie es reagiert bei verschiedenem Licht?
GSR: Ja, das gibt es. Man hat natürlich gewisse Erfahrungswerte, die man mitnimmt. Aber es gibt schon Arbeiten, mit welchen der Dialog langfristiger ist, die einen länger verfolgen und auch im physischen Sinn länger begleiten. Es gibt Arbeiten, die innerhalb von einem oder zwei Tagen fertig sein können und andere, die ein Jahr brauchen (lacht). Der Faktor der Zeit ist sehr wichtig. Denn es geht immer auch um die Zeitlichkeit und darum, wie man bestimmt, wann etwas beginnt und fertig ist und wie man definieren kann, wo der Anfang und das Ziel ist. (Pause) Deshalb ist bei mir immer dieser Aspekt der Unendlichkeit vorhanden, worin man sich verlieren kann. Es ist mir wichtig, dass man keine abgeschlossene Fläche vor sich hat, die etwas eingrenzt und festlegt, sondern dass man sich da hineinbegeben kann. Es ist ein Raum oder eine Erfahrung in ständiger Veränderung. (Pause) Ich spiele dann auch mit optischen Täuschungen, mit Kontrasten, Schärfe und Unschärfe usw., sodass man beim Betrachten manchmal das Gefühl erhält, etwas zu sehen oder nicht zu sehen oder näher hingehen zu müssen, um etwas zu erkennen, aber je näher man heranschreitet, desto weiter entfernt sich das Vermeintliche. Wir versuchen immer alles zu verstehen und zu kontrollieren. Mir gefällt das Spiel, das etwas mit uns macht, ohne dass wir es bestimmen können. Da passiert etwas mit uns, das man gar nicht beschreiben können muss, sondern einfach akzeptieren kann. Es ist eine Art meditativer Zustand…
RB: …ein mit sich selbst Geschehenlassen, ohne Erklären müssen.
GSR: Ja, es ist eben der Moment, in dem man sehr stark selbst gespiegelt wird. Es geht nicht mehr darum, dass ich dieses Bild gemacht habe oder woher ich komme und wer ich bin. Es geht nicht darum, wie ich als Künstler dastehe oder was mein Marktwert ist, sondern dass man plötzlich nur sich selbst reflektiert und was deshalb mit einem geschieht.
RB: Eine Reflexion, die wieder in einen neuen Ausdruck mündet?
GSR: Richtig, das ist exakt das, was dann bei mir passiert. Das Schönste ist natürlich zu sehen, dass es bei anderen auch etwas auslösen kann – und das passiert immer wieder, das ist ganz toll (lacht).
RB: Im erweiterten Sinne lässt Du Dich vom Kunstmarkt als Rahmenbedingung oder einer bestimmten Nachfrage also auch nicht unter Druck setzen, um als Künstler zu existieren. Gleichzeitig hast Du wichtige Preise erhalten – darunter einen Eidgenössischen Preis für Kunst, die Dich in dem, was Du machst, bestätigen. Haben diese Preise aus Deiner Sicht eine grosse Wirkung? Oder wie beurteilst Du es, dass wir in der Schweiz solche Förderinstrumente für Kunstschaffende haben?
GSR: Es ist sicher ein Privileg, das wir mit all diesen vielen Preisen in der Schweiz haben. Ich glaube, sie sind sehr wichtig. Sie und damit eine Anerkennung zu erhalten, ist eine grosse Bestätigung, dass das, was man macht, eine Bedeutung hat, beziehungsweise auch für jemanden sonst eine Bedeutung hat. Für einen selbst hat es ohnehin eine Bedeutung, deshalb macht man es ja, aber dass es von anderen auch so wahrgenommen wird, ist natürlich ein grosser Ansporn weiterzumachen. Ich freue mich immer sehr, wenn ich „auserwählt“ werde. Und rein fördertechnisch ist es ein absolut tolles Instrument, das in der Schweiz verfügbar ist wie in kaum einem anderen Land.
RB: Du bist stark in Luzern verankert, beispielsweise der Manor-Preis war auch an Luzern geknüpft, dann hast Du unlängst einen Anerkennungspreis sowie Werkbeitrag von Stadt und Kanton Luzern erhalten. Jetzt wohnst und arbeitest Du in Berlin. Es gibt ja auch die Förderung über die Vergabe von Auslandateliers, Du hast gerade für das Jahr 2016 einen Atelierplatz in London erhalten. Wie wichtig ist für Dich Dein geografischer Verlauf, das Wechseln einer Stadt, einer Umgebung? Oder ist das kein so wichtiger Faktor in Bezug auf Deine Arbeit, solange Du einen Ort hast, wo Du Dich konzentrieren kannst?
GSR: Dadurch, dass ich zwischen drei Ländern mit drei unterschiedlichen Kulturen aufgewachsen bin, hatte ich nie das Bedürfnis danach, ständig unterwegs zu sein. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich schon sehr viel mitbekomme von anderen Kulturen. Was meine Arbeitsweise betrifft, so brauche ich einen ruhigen Ort, der auch ein Denkraum ist, wie das Atelier, wo ich mich wohl fühle und wohin ich mich zurückziehen kann. Dann gibt es natürlich den anderen Aspekt, dass man einfach gerne die Welt sehen will (lacht). Diese Neugierde hört, glaube ich, nie auf. Das sind aber natürlich auch Möglichkeiten, die man erst einmal haben und angehen wollen muss. Ich glaube, heutzutage muss man gar nicht mehr so lokal denken; ich habe nie gedacht, ich bin Schweizer und möchte nur in der Schweiz ausstellen, sondern ich freue mich, wenn ich mit meiner Arbeit möglichst auch in andere Kulturen eintauchen kann. Nicht zuletzt geht es darum, die eigene Arbeit bewusst unterschiedlich kontextualisieren zu können, gewissermassen um sie herauszufordern. In der Schweiz ist man sehr gut aufgehoben, und es ist dann natürlich sehr einfach, in diesem geschützten Rahmen zu bleiben, doch der Arbeit tut es sehr gut, wenn man versucht, sie neu zu kontextualisieren und geografisch zu positionieren.
(Pause)
RB: Ich möchte hier mit einer Frage zum dokumentarischen Umgang mit Deinem eigenen Werk anknüpfen. Dokumentierst Du es für Dich selbst beispielsweise fotografisch, und ist es Dir im Zusammenhang mit Ausstellungen, gerade wenn es so stark darauf ankommt, wie die Werke dabei zusammengeführt werden, wichtig, zu dokumentieren, wie und wo Dein Werk installiert worden ist?
GSR: Ja, die Dokumentation meiner Arbeit ist mir sehr wichtig. Das zeigt sich daran, dass ich schon immer dokumentiert und die Dokumentation selbst auch als Teil meiner Arbeit gebraucht habe. Beispielsweise erstellte ich mehrere Künstlerbücher. Damit versuchte ich, die Dokumentation meiner eigenen Arbeit in eine Form zu bringen, die mich dann selbst auch wieder weiterbringt. Die Künstlerbücher sind der eine Teil, zum anderen dokumentiere ich ganz streng im Einzelnen.
RB: Führst Du ein eigenes Archiv?
GSR: Ja, jede Arbeit hat eine Archivnummer und ist katalogisiert.
RB: Machst Du das alles digital?
GSR: Ich mache es digital, aber die wichtigsten Arbeiten habe ich auch auf Ektachrome. Zu Beginn hatte ich alles nur auf Ektas, machte dann aber auch den gezwungenen (lacht) technischen Übergang mit.
RB: Die Originalwerke verkaufst Du in der Regel. Gibt es Werke, von welchen Du Dich nicht trennen kannst? Hast Du feste Kontakte zu Sammler? Oder gewährt Dir die Dokumentation, auf welche Du jederzeit zurückgreifen kannst, den fortwährenden Kontakt zu den Werken?
GSR: Einerseits sind für mich die Dokumentation und die Archivierung aufgrund der Aspekte wie Kontrolle und Erhalten von hoher Bedeutung. Andererseits ist es mir ganz wichtig, dass ich die Arbeiten loslassen kann. Ich empfinde es als wunderbaren Moment, wenn eine Arbeit aus dem Atelier hinaus an einen anderen Ort geht. Es ist natürlich sehr wertvoll, wenn es Sammler gibt, die einen über mehrere Jahre begleiten und die Arbeit tiefgründig verstehen oder Gegenüberstellungen mehrerer Werke in ihrer Sammlung versuchen mitzuführen. (Pause. Greift nach einem Buch) Dieses neueste Buch hast Du gesehen, nicht?
RB: Natürlich, „In-Between Things“. Das ist eine ganz besondere Zusammenstellung.
GSR: Es gibt mehrere Bücher zu meiner Arbeit, die eher als Ausstellungskataloge zu charakterisieren sind. Aber dieses Buch ist für mich eindeutig ein Künstlerbuch.
RB: Dabei hast Du mit einer Grafik-Designerin zusammengearbeitet, mit der Du schon mal gearbeitet hast, richtig?
GSR: Mit Amanda Haas, richtig. Das Buch ist in enger Zusammenarbeit mit ihr entstanden. Dazu kamen die Texte der amerikanischen Schriftstellerin Christy Wampole. Es sollte einen Dialog zwischen uns drei ergeben. Wir beabsichtigten, dass der ganze Kontext der Arbeit mitgenommen wird. Es sollte kein Katalog sein oder ein Buch, welches bloss die Arbeit dokumentiert, sondern welches sie auch kontextualisiert. Auch die Texte sollten nicht von einer Kunsthistorikerin oder einem Kunsthistoriker geschrieben sein, sodass die Arbeit kunsthistorisch kontextualisiert wird, sondern dass mittels der Texte die Arbeit weitergedacht wird. Das sollte auch in der Form des Buches zur Geltung kommen.
RB: Es gibt gewisse Aspekte, die durch die Aufmachung des Buches verdeutlicht werden wie die Bedeutung des Lichts. Da kommt Text auf schwarzen Seiten vor, der, je nachdem wie das Licht auf die Seite fällt, besser oder weniger gut leserlich ist.
GSR: Die Grundidee war, dass man gleich zu Beginn merkt, dass man etwas in den Händen hält, das anders ist als ein klassisches Buch. Amanda Haas sagt, dass es eine Form von Umklappung darbietet. Das, was normalerweise bei einem Buch aussen ist, wie der Titel, oder zuhinterst, wie das Impressum,…
RB …das ist hier in der Mitte.
GSR: Ja, genau. Und der Buchdeckel gestaltet sich wie eine Textseite. Sobald man das Buch als Objekt in die Hände nimmt, ist man schon mitten drin. (Schlägt das Buch auf) Zum ersten Mal sind darin auch Fotografien aus meinem Bildarchiv enthalten: Fotografien von Beobachtungen.
RB: Ich staunte schon, als ich das Buch öffnete: Schau an, Fotografien macht er ebenfalls (lacht)? Sind es Fotografien, die Du selbst gemacht hast oder solche, die Du in Deinem Archiv als Quelle gesammelt hast?
GSR: Es gibt Fotografien, die ich gemacht habe sowie Fotografien aus meinem Archiv. Das Buch ist so aufgebaut, dass am Anfang Fotografien enthalten sind, welche ich von Beobachtungen machte. Dabei treten mehrere Fotos vom gleichen Objekt auf. Dadurch findet sich der Lesende direkt nach dem Aufklappen des Buches in meiner Art und Weise zu schauen wieder. Dazwischen folgt ein Text über den „Image Hunter / Bilderjäger“. Von da aus wird der Weg ins Atelier illustrativ suggeriert, bis man sich unter dem Einfall des Lichts mitten im Atelier befindet – also dort, wo wiederum alles anfängt. Mit diesem Weg verschränkt sind die schwarzen Seiten als Hintergrund, teils ausschliesslich von Text in schwarzer Farbe, wodurch man damit konfrontiert wird, eigentlich nichts zu sehen und im Dunkeln zu tappen, bis plötzlich Licht einstrahlt und ein Text erscheint. Technisch ist es so raffiniert gemacht, dass man den Text am besten lesen kann, wenn man die Seiten ins Sonnenlicht hält.
RB: Und zudem verbildlichen Atelieraufnahmen das Phänomen des einströmenden Lichts.
GSR: Ja, wir haben auch viele Aufnahmen ins Buch eingeführt, die Momente wiedergeben, welche wichtig sind für meine Arbeit. Sie beeinflussen letztere auch stark, aber ich zeige sie sonst nie, weil sie keine Werke sind, sondern nur ein Teil davon. (Blättert) Dann folgen reproduzierte Objekte, und es gibt auch…
RB: …Detailaufnahmen.
GSR: Ja, es handelt sich jeweils um die obere linke Ecke eines Werks im Format 1:1, weil es in der Buchform immer so schwierig ist, die Dimensionen wiederzugeben. Es gibt ja einen Index der Bilder, wo die Bilder als Thumbnails aufgelistet sind mit den dazugehörigen Informationen. Wir haben aber auch einen Index der Wörter abgedruckt. In diesem Sinne wird alles gleich behandelt, ob Bild oder Text. Wenn plötzlich alle Wörter einzeln aufgelistet sind, entsteht eine völlig andere Leseform. Es ist ein Spiel mit einem visuellen Ereignis – man nimmt plötzlich den Text auch als Bild wahr und merkt, dass es Elemente gibt, die alles miteinander verwachsen lassen.
RB: Wie ist es zur Fotostrecke mit den Insekten gekommen?
GSR: Das ist einfach passiert. Ich habe die Insekten nicht auf den Bildern platziert (lacht), sondern darauf entdeckt und fotografiert – wie andere Sachen, die ich beobachte. Das sind Dinge, die ich nie jemandem gezeigt habe, wovon ich aber sehr beeindruckt war. Es ist erstaunlich, wie sich diese Wespen, Schmetterlinge, Fliegen und Spinnen ins Bild integrieren und wie man das Bild durch diese Beobachtung plötzlich wieder anders anschaut. Mit den Fotografien wollte ich die Bilder gewissermassen aus der Sicht des Insekts abbilden. Es ist doch spannend, dass nur durch einen Moment eine völlig andere Wahrnehmung entstehen kann, zumal diese Wespe in keinem Bezug zur Arbeit stand, als ich sie schuf.
RB: Im hinteren Teil der Publikation geht es über zu einer weiteren Fotostrecke: Dokumentarfotos aus dem Fundus in Deinem Archiv?
GSR: Es handelt sich um gut hundert Dokumentarfotos, die wir aus mehreren hundert ausgewählt haben. Darunter sind eigene Fotografien von Beobachtungen, skurrilen Situationen oder Objekten bis hin zu Aufnahmen historischer Gemälde oder Illustrationen. Hier entsteht dann auch wieder die Verbindung zu den Wörtern: Jedem Bild ist ein Wort aus den Texten zugeordnet, mit der Absicht, dass man das Bild und das Wort nochmals anders anschaut oder liest. Die Wörter sind nicht als Bildtitel zu verstehen. Sie rufen jedoch einen feinen Bezug hervor, der alles zu ändern vermag. Ähnlich wie vorhin das Insekt, steht hier das Wort zum Bild. Man beginnt Dinge miteinander zu verbinden. Es ist verblüffend, wie sich voneinander unabhängige Sachen überraschend ineinanderfügen können. (Pause) Das sind wunderbare Augenblicke. Es ist wie eine Erkenntnistheorie, die plötzlich vor einem erscheint. Wir versuchen immer durch begriffliches Denken die Dinge zu verstehen und vergessen dabei, dass alles mit allem zusammenhängt, also auch das, was in Worten unerklärlich bleibt. Wer weiss schon, was der Flügelschlag jenes Schmetterlings auf dem Bild ausgelöst hat.
RB: Giacomo, ich bin gespannt, wie es weitergehen wird und bedanke mich herzlichst, dass Du Dir Zeit genommen hast für dieses interessante Gespräch.
© SIK-ISEA; Das Interview wird wie folgt zitiert: Interview von Rahel Beyerle mit Giacomo Santiago Rogado, 14. Dezember 2014, SIK-ISEA.